Die Protokolle des Haintchener Sendgerichts.
Versuch einer Auswertung – mit interessanten Einblicken
Aufgabe der Sendgerichte war ursprünglich „über Zucht und Sitte in den Diözesen“[i] zu wachen. Im Lauf der Geschichte verlor sich diese Bedeutung und Sendgerichte spielten nur noch auf der Ebene der Pfarreien eine immer mehr schwindende Rolle.
Zur Überlieferung
Die Überlieferung der Entscheidungen des Sendgerichts Haintchen beginnt im Pfarrarchiv mit der Amtszeit von Pfarrer Klemmer in den 1730er Jahren. Gut zehn Jahre zuvor hat Pfarrer Kraus die vom Sendgericht zu verhandelnden Fragen und die zu verhängenden Strafen gemäß der kurtrierischen Sendordnung im Amtsbuch der Pfarrei aufgeschrieben[ii].
Auch die Sendgerichtsprotokolle wurden in der Regel in den Amtsbüchern festgehalten[iii]. Eine Ausnahme bildet die Amtszeit von Pfarrer Brixius, in der die Protokolle als Akten vorliegen[iv]. Mit der Amtszeit von Pfarrer Ponsar endet die Überlieferung zur Geschichte des Haintchener Sendgerichts.
Insgesamt liegen aus dem Überlieferungszeitraum (1736-1787) Protokolle zu 108 Sendgerichts-Sitzungen (Sessionen) vor[v]. Die Niederschriften sind oft sehr knapp gehalten. Sie überliefern das Vergehen, den Namen und Aussagen des Urhebers/der Urheberin sowie etwaiger Zeugen und die festgesetzte Strafe bzw. den Hinweis auf die Weiterleitung des Falls an die übergeordnete geistliche Stelle. Eine Ausnahme bilden die Protokolle aus der Amtszeit von Pfarrer Brixius, die oft sehr ausführlich – zuweilen auch weitschweifig – die Verhöre der Beschuldigten und der herangezogenen Zeugen schildern.
Im Laufe einer Sitzung konnten ein oder auch mehrere Vergehen behandelt werden.
Im Jahr 1786 wurde festgelegt, dass Send-Sessionen immer am 1. Sonntag eines Monats stattfinden mussten[vi]. Zuvor wurden sie unregelmäßig einberufen.
Ein gutes Zehntel der Sitzungen verhandelte keine Vergehen. Diese Zusammenkünfte dienten meist dazu die Sendschöffen zu vereidigen und ihnen die Sendfragen und Sendstrafen bekannt zu machen.
Zur Zusammensetzung des Sendgerichts
Das Sendgericht bildeten Pfarrer und vier Sendschöffen[vii]. Die Schöffen halfen bei der Entscheidungsfindung, traten aber auch als diejenigen auf, die Vergehen vor das Sendgericht brachten[viii]. Nicht bei allen Send-Sessionen waren alle Schöffen anwesend. Protokolle aus den Amtszeiten von Pfarrer Brixius und Pfarrer Ponsar tragen oft keine Unterschrift von Sendschöffen, was freilich noch nichts über deren Teilnahme an der jeweiligen Sitzung aussagt. Als Sendschöffen werden im Überlieferungszeitraum genannt: Nikolaus Rau (1736-1751), Carl Sartorius (1743-1751), Johann Adam Roth (1743-1756), Johannes Bös (1743-1787), Ludwig Mollie(r) (1752-1764), Dietrich Urban (1752-1776), Andreas Meisner (1767-1781), Johannes Reichmann (1777-1779) und Philipp Urban (1780-1787).
Zu den Vergehen, ihren Urhebern und deren Bestrafung
Der von Pfarrer Kraus aufgeschriebene Fragen- und Strafenkatalog umfasste 28 Einzelpunkte. Dazu gehörten u.a. Gotteslästerung, Nachlässigkeiten im Empfang der Sakramente, Widersetzlichkeit gegen Pfarrer und Sendschöffen, Aufsuchen von Zauberern und Wahrsagern, Arbeit an Sonn- und Feiertagen, Störungen des Gottesdienstes, Vergehen gegen die Eltern, Schlägereien, Ehebruch, Zusammenleben ohne Trauschein und Scheidung ohne kirchliche Einwilligung.
Der weitaus größten Teil der vor dem Haintchener Sendgericht verhandelten Vergehen bestand in Handgreiflichkeiten bzw. Schlägereien (oft unter Alkoholeinwirkung) an Sonn – und Feiertagen ein[ix]. An zweiter Stelle folgen der „verdächtige Umgang“ unverheirateter Personen, „unkeuscher Umgang“ und Ehebruch. Häufig wurden auch Störungen und das Versäumen der Hl. Messe sowie das Arbeiten an Sonn- und Feiertagen verhandelt. Des Weiteren ging es um Widersetzlichkeiten gegen den Pfarrer und die Sendschöffen (oft in Verbindung mit Beschimpfungen, Fluchen und despektierlichen Reden). Auch Kartenspiel und Tanz, einmal sogar ein verbotenes Lied, riefen das Sendgericht auf den Plan[x]. Vergleichweise selten wurden Themen wie Gewalt in der Ehe, Vernachlässigung der Kinder[xi], Vergehen gegen Eltern oder die Schädigung von Kirchengut[xii] verhandelt.
Das Sendgericht befasste sich mit den Vergehen der Dorfbewohner/innen, also mit den „normalen“ Menschen. Auch die dörflichen „Funktionsträger“ sahen sich hin und wieder Vorwürfen ausgesetzt: So tauchen in den Protokollen zuweilen die Namen von Schultheißen und Schullehrern, einmal sogar des Frühmessers, als Urheber von Vergehen auf. Gelegentlich werden Bewohner benachbarter Dörfer, v.a. aus Hasselbach und Eisenbach, durch das Haintchener Sendgericht bestraft.
In rund 80% der behandelten Fälle werden Männer als Urheber des Vergehens benannt. Von diesen wiederum erscheint mehr als ein Drittel mindestens ein zweites Mal aufgrund desselben oder anderer Vergehen vor dem Sendgericht[xiii]. Bei den Frauen ist es ein knappes Fünftel.
Die Strafen, die das Haintchener Sendgericht verhängte, waren in Geld oder Wachs[xiv] zu entrichten[xv]. In einigen Fällen wurde das Vergehen an die vorgesetzte geistliche Stelle gemeldet, die den Fall an sich zog oder aber eine Strafe festsetzte, die durch das Sendgericht einzufordern war.
Interessante Einblicke …
Die Lektüre der Protokolle des Sendgerichts Haintchen gibt Einblicke in die Schwächen und Fehler der Menschen. Doch nicht darum soll es an dieser Stelle gehen. Vielmehr erweisen sich die Sendgerichts-Protokolle auch als interessante Quelle für die Geschichte des Dorfes.
… zu Bettlern in der Gemeinde Haintchen
Im Jahr 1736 wurde auf kurfürstliche Anordnung das Betteln an Sonn- und Feiertagen verboten. Das Sendgericht listete daraufhin die Namen von zwei Familien mit Kindern, drei Alleinstehenden mit Kindern, einem Ehepaar, einem Geschwisterpaar und einer Witwe auf, für die das Verbot gelten sollte.
… zur Bestellung einer neuen Hebamme
Für gewöhnlich wählten die Frauen des Dorfes aus ihren Reihen die Hebamme aus. Das war wohl auch im Jahr 1745 der Fall. Das Sendgericht vereidigte nach der erfolgten Wahl Anna Catharina Hett(in). Sie wurde im Anschluss daran vom Pfarrer in „nötiger Taufwissenschaft“ unterrichtet[xvi].
… zum Fehlverhalten während der Heiligen Messe
Anscheinend folgten die Gläubigen nicht immer mit der gebotenen Andacht der Messfeier. So wurden die Sendschöffen im Jahr 1746 aufgefordert, auf das ungebührliche Verhalten v.a. auf der Gebühn (Empore) zu achten. Dort wurde während der Predigt geschlafen und während der Aussetzung des Allerheiligsten blieb mancher auf der Bank sitzen.
Zu nicht näher bezeichneten Ausgelassenheiten führte anscheinend das Beisammensein junger Männer auf den vorderen Kirchenbänken (vermutlich ebenfalls auf der Empore). Deshalb wurde 1751 den jungen Burschen,welche noch kein 25 jahr alt, verboten, diese Plätze einzunehmen.
… zum Unterhalt von Heiligenhäusern
Zwei Heiligenhäuser waren im Jahr 1750 dringend sanierungsbedürftig. Das Sendgericht forderte daher Johannes Kremer auf, das sehr zerfallene heiligen-hauß beym wingart genannt, zu reparieren. Die gleiche Aufforderung erging an die Witwe des Heinrich Stickel. Sie sollte das gleichfalls zerfallene heiligen-hauß im dorff bey dem Heubrich wieder in Stand setzen lassen. Die Beiden machten geltend, dass sie nach ihrem Wissen nicht zum Unterhalt der Heiligenhäuser verpflichtet seien[xvii]. Dies wurde anscheinend akzeptiert. Das Sendgericht überlegte daraufhin, ob die beyden heiligenhäußer reparirt oder an statt ihrer ein Creutz aufgerichtet werde. Die Kosten dafür sollten wohl der Pfarrgemeinde zufallen.
… zur Geschichte des Kirchenbaus
Im Jahr 1744 rechnete das Sendgericht anscheinend mit dem unmittelbar bevorstehenden Neubau der Kirche. Es wandelte im Hinblick darauf, eine Sendstrafe in Frondienst auf der künftigen Baustelle um. Indes begannen die Arbeiten erst 1749/50. Ob die Sendstrafe in der Folgezeit doch noch in Geld oder Wachs entrichtet oder tatsächlich Jahre später abgearbeitet wurde, kann hier nicht geklärt werden.
Im September 1750 stand noch das Baugerüst an der neuerbauten Kirche. Mehrere Männer bestiegen dasselbe, trotz Verbots, an einem Sonntag. Leider erwähnt das Protokoll nicht, ob dies aus Neugier geschah oder ob die Männer am Sonntag arbeiten wollten.
Auch die feierliche Einsegnung der Kirche am 19. Juli 1751 findet in den Sendgerichtsprotokollen Erwähnung.
Am 29. April 1753 wurde vor dem Sendgericht die kurfürstliche Anordnung zum Bau der neuen Sakristei verlesen. Ihre Errichtung erfolgte also nicht in einem Zug mit dem Kirchenneubau[xviii].
Ein Jahr später, am 21. April 1754, war der Aufbau des Hochaltars noch nicht abgeschlossen, aber man erkannte bereits die große Kunstfertigkeit, mit der der Schreiner Anton Glas aus Camberg gearbeitet hatte. Daher beschloss das Sendgericht dem Schreiner 10 Gulden zusätzlich zum vereinbarten Preis zu bezahlen. Außerdem ist zu lesen, dass die ursprünglich vorgesehenen Seitenwände[xix] hinter den großen Apostelfiguren nicht zur Ausführung gebracht werden sollten, weil Glas Zierrath[xx] für den Altar geschnitzt hatte, der diese überflüssig machte.
Zum Ende des Sendgerichtes in Haintchen
Ob das Abbrechen der Überlieferung der Sendgerichtsprotokolle auch das zeitliche Ende des Sendgerichts selbst und seiner Tätigkeit in Haintchen markiert, bleibt unklar. Grundsätzlich ist die im Pfarrarchiv erhalten gebliebene Überlieferung aus der Zeit der Nachfolger von Pfarrer Ponsar, Peter Schönborn (1789-1802) und Josef Lincinius (1802-1819) eher dürftig. Sie wird erst mit der Amtszeit von Pfarrer Ruckes (1819-1831) wieder umfangreicher. Allerdings findet sich darin, soweit sich bislang feststellen lässt, keine Erwähnung des Sendgerichts mehr. Dagegen liegen etwa Protokolle des Sendgerichtes in Camberg noch aus den 1820er Jahren vor[xxi].
So bleibt es einer eingehenderen Sichtung des umfangreichen Bestands aus Nassauischer Zeit im Pfarrarchiv vorbehalten, endgültig zu klären, ob das Sendgericht Haintchen noch über das Ende des Trierer Kurstaates hinaus tätig war, oder nicht.
[i] Art. Send, Sendgericht, in: dtv Wörterbuch zur Geschichte, Bd. 2, 748.
[ii] Die Straffen deß Heil: Sendts, nach ordnung der Sendtfragen Von seiner Churfl. Gnd. Zu Trier gnädigst ertheilet; Pfarrarchiv Haintchen, Amtsbücher, Bd. 2. – Der Eintrag ist undatiert. Durch Schriftvergleich kann davon ausgegangen werden, dass Pfarrer Kraus den Eintrag vorgenommen hat.
[iii] Pfarrarchiv Haintchen, Amtsbücher, Bd. 2.
[iv] Pfarrarchiv Haintchen, Kurtrierische Zeit, Mappe: Sendgericht.
[v] Lücken in der Überlieferung: 1737-1742, 1757, 1758, 1760,1761, 1770, 1771, 1774, 1783. – Die meisten Sitzungen fanden, in Relation zur Dauer der Amtszeit, unter Pfarrer Miger statt.
[vi] Die Anordnung erfolgte nach einer Visitation am 21, Oktober 1786.
[vii] Zu den Sendschöffen s. Beschreibung der Pfarrei Haintchen am Ende des 18. Jahrhunderts, abgedruckt in: Alois Staudt, Beiträge zur neueren Kirchengeschichte, in: 600 Jahre Haintchen, 79-111, hier: 87
[viii] „Ihr Amt ist dem Pastor mit an die Hand gehen […] in Beibehaltung geistlicher Zucht unter den Pfarrkindern. Mußten daher 2. wider die Mißbräuche wachen […]“, zit. nach ebd.
[ix] So kam es bspw. am Lichtmesstag (1. Februar) 1752 zu einer Schlägerei junger Burschen aus Haintchen und Hasselbach. Das Sendgericht zog dafür 15 Haintchener und 16 Hasselbacher zur Rechenschaft. Am Fest Mariä Himmelfahrt (15.8.) gerieten 5 Haintchener und 6 Eisenbacher aneinander. Am 26. März 1778 musste sogar eine Messerstecherei geahndet werden.
[x] Auch das Verkleiden eines Mannes in WeibsKleidern am Sonntag nach Fronleichnam 1764 wurde bestraft.
[xi] Hierbei handelte es sich meist um das Fernhalten vom Schulbesuch.
[xii] 1750 werden beide Schultheißen vom Sendgericht bestraft, weil sie für ihre Herren Zehnt von einem zehntfreien Kirchenacker in den Rödern gezogen haben. 1755 verkauft der Schulmeister Bauholz von der abgetragenen alten Sakristei auf eigenen Gewinn. Im gleichen Jahr fällt ein Bürger einen Birnbaum auf einem Kirchenacker und verwendet das Holz zu eigenen Zwecken.
[xiii] Eine einmalige Sonderstellung nimmt der Fall eines Mannes ein, der im Zeitraum zwischen 1743 und 1768 mehr als zehnmal in den Sendgerichtsprotokollen als Urheber zahlreicher Vergehen aufgeführt wird.
[xiv] Wachs war teuer, da ja ausschließlich Bienenwachs zur Verfügung stand, das für die zahlreichen Kerzen zur Beleuchtung der Altäre benötigt wurde.
[xv] Die Höhe der Strafen wurde anhand der Vorgaben des kurtrierischen Straf- und Fragenkatalogs bemessen. Hier waren die Strafen ausschließlich in Geldbeträgen angegeben. - Unter Pfarrer Miger finden sich wiederholt Verweise auf die Armut der zu Bestrafenden, was zur Minderung des Strafmaßes führte.
[xvi] Beschreibung der Pfarrei Haintchen am Ende des 18. Jahrhunderts, abgedruckt in: Alois Staudt, Beiträge zur neueren Kirchengeschichte, in: 600 Jahre Haintchen, 79-111, hier: 89. – Als die Hebamme in der Amtszeit Pfarrer Ponsars verstarb, konnten sich die Frauen nicht auf die Wahl einer neuen Hebamme einigen. Sie wurde daraufhin von Pfarrer und Sendschöffen benannt; ebd.
[xvii] Im Zuge des Verkaufs des Heubrich im Jahr 1751 wurde den neuen Eigentümern auferlegt, ein neues Heiligenhaus zu errichten und zu unterhalten; ASdQ 2 (2018). Das alte Heiligenhaus war demnach zwischenzeitlich nicht wieder in Stand gesetzt worden.
[xviii] Damit erklärt sich das Vorhandensein einer von der eigentlichen Kirchenbaurechnung getrennten Aufstellung der Kosten für den Bau der Sakristei; Pfarrarchiv Haintchen, Kurtrierische Zeit, Mappe: Rechnung über den Kirchenbau. – Das auf dem Türsturz zwischen Sakristei und Chorraum eingemeißelte Erbauungsjahr der Kirche wäre somit zunächst als Schmuck der Außenfassade angebracht worden. Die Sakristei verfügte über zwei Türen zum Kirchhof; ebd.
[xix] Vgl. etwa den Hochaltar in St. Margaretha, Hasselbach oder den auf das Jahr 1764 datierten Hochaltar in St. Peter und Paul, Villmar aus der sog. Hadamarer Schule.
[xx] Gemeint sind wahrscheinlich die am Hauptgeschoß des Altars seitlich zu den Apostelfiguren hin angebrachten großen, weiß- und goldgefassten, durchbrochenen Schnitzereien.
[xxi] Erich Müller (Hg.), Die kleinen Sünden unserer Vorfahren. Auszüge aus demProtokollbuch des Sendgerichts 1757-1827 (= Bad Camberger Archivschriften 2), Bad Camberg 1987.